Unmittelbar vor mir klimperte der hölzerne Griff einer Schuhbürste, als sie auf dem geteerten Boden aufschlug. Sie war einem älteren Mann mit dunkelgrauer Jacke aus der Tasche gefallen. Er trug einen kleinen Holzhocker in der Hand und schien sein Missgeschick gar nicht bemerkt zu haben. Ich hob die Bürste auf und rief dem Schuhputzer hinterher. Dieser drehte sich daraufhin um, freute sich sichtlich über die Schuhbürste, bedankte sich kurz und verschwand danach in der Menschenmenge. Zunächst dachte ich mich nichts weiter dabei.
Unterwegs in Istanbul
Alex und ich liefen gerade über die große Galatabrücke. Direkt neben uns standen mehr als zwanzig Angler entlang der Brüstung und warteten geduldig auf den nächsten Fang, während über uns einige Möwen kreischten und ihre Runden zogen. Etwas weiter entfernt brauste eine Fähre durch das Wasser des Bosporus. Dahinter rahmten imposante Gebäude die Szenerie ein: Wir sahen das orange-rötliche Mauerwerk der Hagia Sophia, die Gärten des Topkapı-Palastes sowie die vier Minarette der Süleymaniye-Moschee. In unserem Rücken ragte der bauchige Galataturm mit spitzem Kegeldach in die Höhe. Wir waren mitten in Istanbul.
Der Schuhputzer möchte sich revanchieren
Plötzlich tauchte vor uns die dunkelgraue Jacke wieder auf. Der Schuhputzer war doch noch einmal zurückgekehrt und fing nun damit an, sich gestenreich und ausführlich auf Türkisch bei mir zu bedanken. Ohne große Vorwarnung stellte er seinen Holzhocker auf und kniete auf einmal vor mir. Er wollte mir ganz offensichtlich meine Schuhe putzen.
Ich schaute hinab in die braunen Augen des Mannes. Dichte, grau-schwarze Brauen standen struppig darüber. Mir war etwas unwohl zumute. Zum einen wollte ich meine Stoff-Schuhe überhaupt nicht putzen lassen, sie waren ja nicht einmal dreckig. Zum anderen wirkte die Körperhaltung des Schuhputzers auf mich, als habe er sich selbst vor mir erniedrigt.
Ich lehnte das Angebot ab und sagte: „Das ist schon okay! Keine Ursache!“ Doch der Mann insistierte. Es schien ihm sehr wichtig zu sein sich revanchieren zu können und so stellte ich schließlich meinen rechten Schuh auf seinen Holzhocker.
Eine unerwartete Wendung
Nach einigen rasch ausgeführten Zügen mit der Bürste, schaute der Mann zu mir auf. Ganz unerwartet sprach er doch ein wenig Englisch: „Ich habe drei Kinder; zwölf, 13 und 14 Jahre alt. Sie wohnen leider nicht hier, sondern bei ihrer Mutter in Ankara.“ Er zog ein altes, zerknittertes Foto hervor. Zu sehen waren drei junge Geschwister.
„Sehr schön. Meinen Glückwünsch zu solch schönen Kindern“, erwiderte ich höflich und ahnte dennoch allmählich, in welche Richtung sich dieses Gespräch bewegt. „Sie haben Hunger. Ihre Mutter ist krank, sie kann kein Geld verdienen“, fügte der Schuhputzer mit trauriger Stimme hinzu.
Als er nur eine Minute später auch meinen zweiten Schuh gebürstet hatte, verlangte der alte Mann acht türkische Lira – in etwa der Preis für zwei Linsensuppen mit Brot und Ayran.
Und täglich grüßt das Murmeltier...
Am Abend darauf liefen Alex und ich erneut durch Istanbul, waren dieses Mal jedoch eher in einsamen Gassen unterwegs. Ein Mann, um einige Jahre jünger als der Schuhputzer mit der dunkelgrauen Jacke, kreuzte unseren Weg. Er trug einen kleinen Hocker in seiner rechten Hand. Plötzlich hörten wir ein uns gut bekanntes Geräusch: Die Holzbürste des Mannes fiel klimpernd vor uns zu Boden. Es sah ganz so aus, als sei sie ihm aus Versehen aus seiner Tasche gefallen.