Das Flattern des weißen Gewandes klang wie der Flügelschlag einer Taube. Es war mir so nah, dass ich einen leichten Luftzug auf meinem Gesicht spürte. In dem mit dunklem Holz verkleideten, mit warmem Licht nur spärlich ausgeleuchteten Raum vor mir war es beinahe absolut still. Das war bemerkenswert, denn ein knappes Dutzend Männer wirbelte gleichzeitig in immer neuen Kreisen und Drehungen über das Parkett. Ich bekam eine Gänsehaut.
Zur Sema in Konya
Alex und ich waren in Konya, einer Stadt im Zentrum der Türkei. Es ist die Heimat der Mevlevi-Derwische. An einem Abend besuchten wir das kleine Kulturzentrum, um uns eine Sema, das ist das rituelle Gebet der Derwische, anzuschauen.
Bevor die Zeremonie startete, erklärte der Direktor des Kulturzentrums sichtlich stolz: „Die Tradition unserer Sema ist schon über 800 Jahre alt und geht auf niemand geringeren zurück als auf Mevlana Rumi!“
„Rumi kam noch als Kind aus seiner persisch-sprachigen Heimat nach Konya und lernte hier den Sufismus kennen“, führte der Mann mit begeisterter Stimme aus. „Der Sufismus ist eine religiöse Strömung innerhalb des Islam. Für einen Sufi sind Schriften wie der Koran oder religiöse Stätten zwar wichtig. Im Zentrum stehen für ihn aber vor allem mystische Erfahrungen, also Erlebnisse, die die Existenz Gottes bezeugen sollen. Musik, Tanz und Meditation sind dabei für einen Derwisch die wichtigsten Wege zu Gott.“
Ein bedächtiger Beginn
Die Sema begann somit auch mit Musik: Bedächtig angespielte Trommeln begleiteten die hohen, klagenden Töne der Nay-Flöte mit einem gemächlichen, beinahe meditativen Rhythmus. Dazu gesellten sich einige melancholische Akkorde, die auf einem Tanbur, einem sehr bauchigen Saiteninstrument, angespielt wurden und die traurige, tiefe Männerstimme, die vom Verlust etwas sehr Geliebten zu singen schien.
Die Derwische knieten zunächst dicht beisammen auf ausgelegten Fellen am Rande der kreisförmigen Bühne. Ab und an beugten sie sich im Zusammenspiel mit der Musik vor und richteten sich wieder auf.
Anschließend gingen sie, angeführt von ihrem spirituellen Meister, auf eine gemächliche Wanderschaft und zogen so einige langsame Runden durch den Raum.
Der Drehtanz der Mevlevi-Derwische
Erst danach begann der Drehtanz, für den der Mevlevi-Orden so berühmt geworden ist: Die Derwische traten einer nach dem anderen vor ihren Meister, verbeugten sich und legten ihre schwarze Robe, die Chirqa, ab. Die Bedeutung dieses besonderen Moments hatte der Direktor zuvor erklärt: „Die Sikke, die lange, braune Kopfbedeckung des Derwisches, symbolisiert seinen Grabstein, das weiße Gewand soll sein Leichentuch sein und der schwarze Umhang sein Grab. Kurz bevor die Drehbewegungen starten, entsteigt der Derwisch diesem Grab; es ist der Moment der spirituellen Wiedergeburt!“
Die Derwische begannen damit, sich um ihre eigene Achse zu drehen, sodass ihr weißes Gewand zu flattern begann. Nach kurzer Zeit lösten sie ihre vor der Brust verschränkten Arme und streckten sie seitlich ihres Körpers in die Höhe. Die rechte Hand war nach oben zum Himmel hin geöffnet; sie soll den Segen Gottes empfangen. Die linke Hand der Derwische zeigte hingegen nach unten; sie verteilt den Segen in die Welt. So verharrten sie minutenlang, während sie sich um sich selber drehten.
Rumis Trauer und Rumis Wirken
Als mir so die Luft seicht durchs Gesicht strich, erinnerte ich mich an die Erzählung des Direktors: „Rumi lernte hier in Konya den Derwisch Schams-e Tabrizi kennen. Eine tiefe Freundschaft entwickelte sich zwischen den beiden. Sie war für Rumi so prägend, dass er in eine tiefe Trauer verfiel, als Schams eines Tages plötzlich verschwand.
Die Sehnsucht nach Schams und die Ungewissheit über seinen Verbleib veranlassten Rumi zu einer Fülle von Gedichten und ließen ihn somit zu einem der bedeutendsten persisch-sprachigen Dichter überhaupt werden. Doch damit nicht genug! Denn darüber hinaus ersann er die einzigartige Drehbewegung, die auch heute noch der zentrale Teil der Sema ist.“
Die Suche nach dem Licht
Zum Abschluss der Zeremonie versammelten sich die Derwische wieder kniend auf ihren Fellen und beendeten das Ritual mit einer Atem-Meditation. Meine Gänsehaut ließ langsam nach.
Suche das Licht nicht im Außen, finde das Licht in dir und lass es aus deinem Herzen strahlen
- Rumi
„Suche das Licht nicht im Außen, finde das Licht in dir und lass es aus deinem Herzen strahlen“, hatte Rumi vor rund 800 Jahren gesagt. Auf mich wirkte es ganz so, als seien die Derwische hier und heute in Konya fündig geworden.