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#10 In Roberts Lkw nach Istanbul

Schweißgebadet wachte ich auf und wusste zunächst nicht, wo ich überhaupt war. Es war dunkel um mich herum. Beim Versuch mich aufzurichten stieß ich mir den Kopf, neben mir lag Alex. Die Luft war stickig, ich konnte kaum noch atmen. Ein Blick auf die Uhr – es war 2:25 Uhr – und ich wusste: Ich musste leise sein!

Beim Trampen auf der Autobahn gelandet

Dreizehn Stunden zuvor: Nahezu hoffnungslos schauten Alex und ich uns an: „Wie soll das nur jemals klappen?! Wie sollen wir so bis nach Istanbul kommen?!“ Beim Reisen per Anhalter waren wir mitten auf einer Autobahn abgesetzt worden. Nun standen wir bei knallend-heißer Mittagssonne irgendwo in der griechischen Prärie zwischen Kavala und Alexandroupolis auf dem Seitenstreifen des zweispurigen Highways. Um uns herum sahen wir weit und breit nur Acker- und Wiesenflächen. Die wenigen Autos, die uns passierten, donnerten mit extrem hoher Geschwindigkeit an uns vorbei.

Beim Trampen in Griechenland
Beim Trampen auf einsamen Straßen in Griechenland.

Doch plötzlich geschah etwas Unerwartetes: Der Fahrer eines Lkws erspähte uns gerade noch rechtzeitig und stieg scharf auf seine Bremse. Mit ächzenden Achsen kam der Gigant einige Meter hinter uns zum Stehen. Konnte dieser Schwerlaster uns aus der misslichen Lage befreien?

Zu Gast in Roberts Fahrerkabine

Wir liefen hin und hievten uns über eine dreistufige Leiter hinauf in die Fahrerkabine. Ein Mann reichte uns seine Hand. „Ich bin Robert“, sagte er. In seinem Blick lag eine bemerkenswerte Offenheit; die Lachfältchen rund um seine Augen strahlten Gelassenheit und Ruhe aus. „Fühlt euch ganz wie zu Hause“, sagte er freudestrahlend und deutete mit einer einladenden Geste auf sein heimelig eingerichtetes Führerhaus, das fast schon einem kleinen Wohnzimmer glich: Ein gehäkeltes Deckchen verzierte das Armaturenbrett; die Sitze waren mit einem gemütlichen Stoff überzogen, von der Decke hing ein quietschgrüner Wunder-Baum und selbst der Fußraum war mit Teppichboden ausgelegt – wir zogen die Schuhe aus und betraten Roberts Zuhause.

Spannende Gespräche und interessante Begegnungen machen den weiten Weg nach Istanbul für Alex und mich zu etwas ganz Besonderem. Dabei sind wir per Anhalter unterwegs, treffen auf viele kniffelige Situationen ...
Spannende Gespräche und interessante Begegnungen machen den weiten Weg nach Istanbul für Alex und mich zu etwas ganz Besonderem. Dabei sind wir per Anhalter unterwegs, treffen auf viele kniffelige Situationen und fragen uns nicht nur einmal, ob wir es überhaupt bis zum Bosporus schaffen werden…?

„Nehmt euch doch ein paar Kekse“, sagte der sympathische Lkw-Fahrer und deutete mit dem Kopf auf eine Dose. Kurz darauf zog er zwei frische Plastik-Becher für uns hervor und kramte nach einer Wasserflasche, die links vom Lenkrad zwischen Armaturenbrett und Fahrertür eingeklemmt war. „Das ist mein Trick: So wird das Wasser direkt von der Klimaanlage gekühlt“, erklärte uns der 33-jähriger Truck-Fahrer augenzwinkernd.

Gemeinsam bis nach Istanbul - vielleicht sogar schon zum Abendessen

Robert sprach Mazedonisch, eine Sprache, die so nah mit dem Serbischen verwandt ist, dass wir uns ein wenig miteinander unterhalten konnten. „Wohin fährst du heute?“, fragten wir. „Ich hole Waren ab, um sie nach Mazedonien zu transportieren. Dafür muss ich nach Istanbul fahren.“ – „Ach, das ist ja super! Wir möchten auch nach Istanbul!“ freuten wir uns. Außerdem fanden wir heraus, dass Robert in der mazedonischen Hauptstadt Skopje wohnt und dort eine Familie mit zwei Kindern hat. Stolz zeigte er uns ein Familienfoto.

Schon eine gute Stunde nachdem wir bei Robert zugestiegen waren, tauchte die Grenzanlage zur Türkei auf. Hinter den Passkontrollen trennten uns eigentlich nur noch 250 Kilometer vom Bosporus. Die Autobahn wirkte gut ausgebaut. „Vielleicht können wir ja sogar schon zum späten Abendessen in Istanbul sein“, rechneten wir uns aus. Doch dann sollte es ganz anders kommen.

Unser Reiseziel: Istanbul
Stets vor Augen hatten wir unser Reiseziel: Istanbul am Bosporus

Die Verkehrslage war hinter der Grenze deutlich angespannter als noch davor und entzündete sich nur einige Kilometer später an zwei Baustellen. Es ging nichts mehr vorwärts! Im Schneckentempo rollten wir auf der rechten Spur und beobachteten, wie die Autofahrer um uns herum nach und nach vom Wahnsinn erfasst wurden. Aus den zwei linierten Spuren kreierten die Autofahrer drei, später sogar vier. Den Standstreifen gab es nicht mehr. Einige Wagemutige suchten ihr Glück gar auf einer fünften Spur neben der geteerten Strecke und blieben dort reihenweise im tiefen Sand stecken. „Magarac“ – „Solche Esel!“, analysierten wir die Situation lachend von der erhöhten Fahrerkabine aus.

Schlafpause mit Robert

Kurzerhand entschloss sich Robert, seine vierstündige Schlafpause vorzuziehen und steuerte einen Rastplatz an. „Seht ihr das?“, fragte er uns und zeigte dabei auf die unzähligen, bereits geparkten Laster. „Wo so viele Lkws halten, da gibt es meistens auch etwas Gutes zu essen!“

Er sollte Recht behalten und kam schon kurz danach mit einem leckeren Abendessen aus dem Restaurant des Rastplatzes zu uns zurück. Nachdem er Campingstühle aus einem Versteck unter der Zugmaschine hervorgezogen hatte und wir gemütlich zusammensaßen, gesellten sich nach und nach weitere Trucker dazu, ganz offensichtlich altbekannte Kollegen von Robert, und plauderten ein wenig mit uns.

Nach dem Essen räumte Robert die Stühle zurück und holte nun einen riesigen Wasserkanister und eine Shampoo-Flasche hervor. Damit wuschen wir drei uns der Reihe nach Gesicht, Hände und Füße – eine feste Routine vor dem Schlafengehen, erklärte uns der Trucker. Anschließend verwandelten wir die Fahrerkabine in eine Art Doppelbett-Zimmer: Alex und ich schliefen auf der Matratze, die ohnehin schon hinter den beiden Sitzen lag. Robert klappte sich ein zusätzliches Bett von der Hinterwand und legte sich eine Etage über uns aufs Ohr.

Es war eine Fahrt, mit der uns Robert nicht nur bis zum Bosporus brachte, sondern uns auch mitnahm in eine für uns bis dahin unbekannte Welt – in seine Trucker-Welt.

Um 3.25 Uhr klingelte endlich Roberts Wecker. Seit einer Stunde schon war ich auf dem Boden der stickigen Fahrerkabine dahingesiecht, wollte Robert aber nicht um seinen wichtigen Schlaf bringen. Auch er wunderte sich über die schlechte Luft, als er aufwachte, und öffnete das Oberlicht. „Das habe ich in meiner Müdigkeit vorm Einschlafen ganz vergessen“, murmelte er verlegen, bevor wir unsere Fahrt fortsetzten. Eine Fahrt, mit der uns Robert nicht nur bis zum Bosporus brachte, sondern uns auch mitnahm in eine für uns bis dahin unbekannte Welt – in seine Trucker-Welt.

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