Neben uns gackerten einige Hühner leise vor sich hin und pickten nach Körnern auf einer Wiese. Schräg gegenüber saß eine Frau vor ihrem kleinen Lädchen auf einer schiefen Bank. In der Hofeinfahrt daneben stand ein aufgebocktes Auto, die Vorderreifen fehlten. Alex und ich standen am Ortsausgang von Rožaje. Eine schmale Teerstraße führte geradewegs hinaus aus dieser kleinen Stadt. Wir wussten: Von hier, dem letzten Vorposten Montenegros ganz im Osten des Landes, war es nicht mehr weit bis zum Kosovo.
„Was wird uns dort erwarten?“, fragten wir uns beide gespannt. Das kleine Land Kosovo existiert erst seit 2008 und wird zum Beispiel von Serbien gar nicht als solches anerkannt, sondern weiterhin als eigenes Staatsgebiet beansprucht. Diese Streitigkeiten zwischen Serben und den albanisch-sprechenden Kosovaren fanden ihren traurigen Höhepunkt im Kosovo-Krieg Ende der 1990er Jahre. Noch heute schwelt der Konflikt zwischen den Albanern, die aktuell knapp 90% der Bevölkerung stellen, und der serbischen Minderheit im Kosovo.
Milija und Rade stoppen für uns
Plötzlich riss uns das Motorengeräusch eines Kleinwagens aus unseren Gedanken. Er kam direkt auf uns zu und hielt tatsächlich an, um uns mitzunehmen. Am Steuer des dunkelblau lackierten VWs saß Rade. Er trug ein schlichtes, schwarzes Hemd. Sein weißes, kurzgeschnittenes Haar fiel ihm auf die Stirn. Neben ihm saß Milija, der noch ein paar Jahre älter war und sich mit dürrem, eingefallenem Gesicht zu uns umdrehte. Seine Stoffhose wirkte viel zu weit und wurde nur von einem Gürtel um seine magere Hüfte gehalten. Das lichte Haar hatte er nach hinten gekämmt und im rot-karierten Hemd wirkte er fast ein wenig adrett.
Die beiden sprachen Serbisch und so konnte Alex ein wenig übersetzen. Milija sagte: „Wir fahren nach Peć, das ist die erste Stadt hinter der Grenze. Für euch müsste das genau auf dem Weg liegen.“ Rade redete wenig, konzentrierte sich eher darauf, den Wagen in gemächlichem Tempo über die Straße zu lenken. Ab und zu schaute er in den Rückspiegel, lächelte uns herzlich an und ließ dabei stets seine riesigen Zahnlücken aufblitzen.
Durchs Niemandsland bis in den Kosovo
Schon bald erreichten wir den ersten Grenzposten, eine kleine Baracke am Wegesrand. Nach der knappen Ausweiskontrolle durch die montenegrinischen Beamten schlängelte sich unser VW weiter durch scheinbar undurchdringlichen Nadelwald und schließlich über einen Bergpass hinweg. Erst dahinter und sogar noch hinter einem kleinen Dorf tauchte der kosovarische Grenzposten auf. Für mehr als zehn Minuten waren wir also durch das Niemandsland zwischen den beiden Staaten gefahren.
Nach dem kosovarischen Grenzposten verloren wir rapide an Höhe bis wir uns einer Tiefebene näherten. Gerade zogen die ersten Häuser von Peć an uns vorbei, da drehte sich Milija plötzlich zu uns um: „Kommt doch auf einen Kaffee mit zu uns nach Hause. Wir würden euch sehr gerne einladen!“ Perplex schauten Alex und ich uns an. Rade lächelte uns wieder einmal sympathisch über den Rückspiegel zu. „Natürlich, das machen wir gerne“, entschied Alex.
Zuhause bei Milija und Rade
Nachdem Rade den VW in einer gepflasterten Einfahrt geparkt hatte, stiegen wir aus und standen vor einem Haus. Im schmalen Grünsteifen des Vorgartens wuchsen zwei kleine Apfelbäume einsam vor sich her. Vor dem gräulich angelaufenen Putz des Gebäudes wirkte die Szenerie recht trostlos und öde.
Wir betraten das Haus. Milija und Rade führten uns direkt in das Wohnzimmer. Auf dem staubigen Parkett-Boden stand lediglich ein fragiler Holztisch mit vier Stühlen. Sonst war da nichts, keine Couch, kein Teppich, keine Deko. Uns fröstelte ein wenig in dem kühlen Raum.
Erwärmende Gastfreundschaft und ein interessantes Gespräch
Milija stellte eine Schüssel mit Äpfeln auf den Tisch: „Die sind von unseren Bäumen“, sagte er stolz, „bedient euch gerne! Und der hier“, führe er aus, während er vier Schnapsgläser und eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit auf den Tisch stellte, „ist natürlich selbstgebrannt. Hausgemachter Rakija!“ Rade hatte sich derweil in die Küche zurückgezogen und kam schon bald mit frisch aufgebrühtem türkischem Kaffee zu uns zurück.
In Peć bin ich groß geworden; hier wohnen meine Familie und meine Freunde. Peć ist meine Heimat.
- Milija
Bei Kaffee und Schnaps kamen wir ins Plaudern. Alex und ich erzählten von unseren bisherigen Reisestationen, Milija erklärte uns, wie er diesen köstlichen Rakija aus vergorenen Äpfeln herstellt und Rade gab uns eine kurze Führung durch das Haus. Nach einer Weile kamen wir auch auf die aktuelle Situation im Kosovo zu sprechen: „Wie ist das für euch, als Serben im Kosovo zu leben?“, fragte ich. Milija antwortete: „Momentan ist die Lage zwischen Serben und Albanern vergleichsweise entspannt; wir haben keine großen Probleme. Aber diese kosovarische Regierung vertritt nur Albaner und albanische Interessen. Wir fühlen uns wie Fremde im eigenen Land.“ – „Ist es denn keine Option für euch, ins serbische Kernland zu ziehen, weg von all den Problemen?“ – „Nein, überhaupt nicht“, erklärte Milija, „Rade und ich sind hier geboren. In Peć bin ich groß geworden; hier wohnen meine Familie und meine Freunde. Peć ist meine Heimat.“
Eine gute Stunde später, nachdem wir einen letzten Schnaps zusammen getrunken hatten, verabschiedeten wir uns herzlich von Milija und Rade – Alex und ich mussten weiterziehen. „Nehmt doch noch ein paar Äpfel mit“, rief uns Milija zu und hatte schon ein gutes Dutzend in eine Tüte gepackt. Uns war mittlerweile wohlig-warm ums Herz geworden – und das lag gewiss nicht nur am Rakija.