Auf einer breiten, ausladenden Teerfläche liefen wir unsere ersten Schritte hinein ins Landesinnere. Für mehrere hundert Meter ging es so vor uns schnurstracks geradeaus auf einem bestimmt zwanzig bis dreißig Meter breiten Teerdeckel. Um uns herum raschelten die Blätter der Bäume im seichten Wind. Einige Vögel zwitscherten. Ansonsten war es still.
Früh waren wir heute Morgen aufgebrochen. Mit dem ehrgeizigen Ziel, die ungarische Hauptstadt Budapest zu erreichen, streckten meine Freundin Alex und ich unsere Daumen im Zentrum Zagrebs aus. Das ist beim Reisen per Anhalter eine der kniffeligsten Situationen: Der Weg hinaus aus einer großen Stadt. Zum einen findet sich dort nur schwer eine geeignete Stelle, an der ein Fahrzeug überhaupt für uns anhalten kann. Zum anderen verlieren sich die allermeisten Autos im Wirrwarr des städtischen Straßendschungels und fahren nicht unserem Tagesziel entgegen.
Mit viel Glück bis zur kroatisch-ungarischen Grenze
Doch wir hatten Glück und konnten bereits nach kurzer Wartezeit mitten in der kroatischen Hauptstadt bei Miro zusteigen. Der vierzigjährige Mann war eigentlich auf dem Weg zu einem Geschäftstermin und wollte uns nur ein kleines Stückchen mitnehmen. Doch dann kam es plötzlich ganz anders: Zunächst stoppte er an einer Tankstelle und versorgte uns dort mit einem prickelnden Brausegetränk. Im Anschluss ließ er es sich nicht nehmen, einen riesigen Umweg für uns einzulegen. So fuhren wir noch weitere 60 Kilometer zusammen mit Miro und standen – als wir aus seinem Auto ausstiegen und uns herzlich von ihm verabschiedeten – direkt vor der kroatisch-ungarischen Grenze.
Wir reihten uns dort als Fußgänger in die relativ kurze Autoschlange ein und spazierten nach der Ausweiskontrolle auf einer Brücke über den Grenzfluss hinein nach Ungarn.
Kaum ein Fahrzeug kommt vorbei
Mit dem sanften Geräusch der raschelnden Blätter und der zwitschernden Vögel im Hintergrund, lernten Alex und ich in den letzten Minuten recht schnell, dass hier zwar jede Menge Teerfläche vorhanden ist, dass Autos auf dieser Straße allerdings so gut wie nie vorbeifahren. Geschätzt im Viertelstunden-Takt verirrte sich ein vereinzelter Pkw oder auch mal ein Lieferwagen und durchfuhr dieses einsame Stück Landschaft.
Also warteten wir. Fünfzehn Minuten, dreißig Minuten… Unsere Rucksäcke hatten wir schon lange an einer Leitplanke abgestellt und saßen etwas gelangweilt auf der Straße. Die Grenzanlage war zwei- oder dreihundert Meter entfernt, aber stets in unserem Blickfeld. Wenn sich dann mal ein Auto über die Grenze wagte, standen wir auf, nahmen unsere Sonnenbrillen ab, streckten unsere Daumen aus und setzten unser freundlichstes und sympathischstes Lächeln auf. Es half nichts.
Fünfundvierzig Minuten waren vergangen… Um uns die Zeit zu vertreiben, tanzten Alex und ich einen Wiener Walzer. Den Takt summten wir uns selbst herbei: Eins und zwei, und eins und zwei, zur Seite hin und her. Und dann im raschen Drehschritt mit großzügigen Schritten über das dunkelgraue Teer-Parkett.
Plötzlich bekommen wir unerwartete Gesellschaft
Sechzig Minuten… Auf einmal geschah etwas Unglaubliches! Wieder öffnete sich die Grenzanlage und spuckte einige verirrte Seelen hinein ins ungarische Staatsgebiet. Aber nein… Das durfte nicht wahr sein! Wir konnten unseren Augen nicht glauben! Diese Menschen, die nun ganz langsam auf uns zukamen, saßen nicht in einem Fahrzeug. Genau wie wir, hatten sie einen großen Rucksack aufgeschultert und waren zu Fuß unterwegs. Schritt für Schritt kamen sie uns näher. Ein Pärchen aus Polen, wie sich schnell herausstellte, als wir uns kurz miteinander unterhielten. Und sie waren tatsächlich auch per Anhalter unterwegs. Hier! An diesem gottverlassenen Ort. Hier, wo ohnehin schon kaum ein Fahrzeug vorbeikam.
Jedem von uns vieren war klar, dass wir nicht beisammenstehen konnten. Für vier Leute gleichzeitig würden noch weniger Fahrzeuge anhalten, als für zwei. Also trafen wir eine Übereinkunft, stillschweigend, ohne dass wir darüber sprechen mussten. Das Paar aus Polen lief weitere zweihundert Meter die Straße hinunter und stellte sich dort auf.
Der polnische Winke-Arm kommt zum Einsatz
Achtzig Minuten… Den Nachteil, an zweiter Stelle zu stehen, versuchten unsere Konkurrenten fortan mit einem ausladenden Winke-Arm wettzumachen. Im hohen Bogen ließen sie ihre Hände durch die Luft sausen, wann immer wir mit unseren Daumen um die Gunst eines Fahrzeugs warben. Und tatsächlich: Das dritte Auto, welches uns seither passiert hatte, hielt nicht für uns, sondern zweihundert Meter weiter für das polnische Pärchen an. Am Auto ein polnisches Kennzeichen. „Wie hatte das nun geklappt?! Was war hier passiert?!“, fragten Alex und ich uns entsetzt, während sich das Fahrzeug langsam entfernte und wir wieder alleine auf der breiten Fahrbahn standen. Immer noch ganz am Anfang von Ungarn!
Den Nachteil, an zweiter Stelle zu stehen, versuchten unsere Konkurrenten fortan mit einem ausladenden Winke-Arm wettzumachen. Im hohen Bogen ließen sie ihre Hände durch die Luft sausen, wann immer wir mit unseren Daumen um die Gunst eines Fahrzeugs warben.
War dieser ausladende Winke-Arm, den die beiden eingesetzt hatten, ein geheimes Zeichen unter polnischen Landsleuten? Wie konnte der Fahrer des Pkws wissen, dass die beiden Personen hinter uns polnisch waren und wir nicht? Das war doch nicht möglich! Oder lag es an etwas anderem? Verwundert schauten wir uns an; aber wir sahen doch genau so sympathisch aus wie eh und je!
Noch immer fassungslos über die Vorgänge, berappelten wir uns und warteten auf die nächsten Chancen. An dieser Stelle sollten wir besser kein Fahrzeug verpassen!
Nach mehr als 100 Minuten hält ein Auto an
Mittlerweile waren mehr als 100 Minuten vergangen… Der Schlagbaum der Grenzanlage öffnete sich erneut. Ein Kleinwagen näherte sich uns vorsichtig an, schien uns mit seinen Scheinwerfern aufmerksam zu mustern, so langsam fuhr er an uns heran. Er stoppte neben uns. Am Steuer saß eine Frau, auf der Rückbank ihre zwei Kinder. Sie lud uns in ihr Fahrzeug ein und brachte uns tatsächlich weg von dieser verlassenen Stelle und gut vierzig Kilometer hinein nach Ungarn!
Ein Lkw und zwei weitere Pkws später standen wir im Zentrum Budapests, direkt vor der Haustür unseres Hostels. Wir hatten es geschafft, und das obwohl wir an diesem Tag gegen den polnischen Winke-Arm ohne jede Chance gewesen waren!