„Und dann ausgerechnet Kosovo!“
Ich riss meine trägen Augen auf und kämpfte gegen die mich übermannende Müdigkeit an. Kleine, schwarze Bettwanzen hatten mich in der vergangenen Nacht aus meinem Bett vertrieben. Gut 28 Stunden hatte ich nun nicht geschlafen – aber ich spürte, dass es jetzt noch einmal sehr interessant werden würde!
Stadtführung durch Belgrad
Seit ungefähr einer Stunde führte uns eine 30-jährige Serbin namens Tamara durch die Belgrader Innenstadt. Geschickt zusammengestellt erzählt sie uns dabei anhand von Gebäuden und Denkmälern die Geschichte der serbischen Hauptstadt. Zum Abschluss ging es natürlich auch um den gewaltvollen Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens.
Serben traten dabei zumeist in der Rolle auf, den sich auflösenden Staat konservieren zu wollen; andere Volksgruppen des multi-ethnischen Jugoslawiens sehnten sich hingegen in unterschiedlich stark ausgeprägten Mehrheiten nach einem eigenen Staat. Bei einer Stadtführung durch Zagreb, hatte uns der kroatische Guide von Kriegsverbrechen der serbischen Armee während des Kroatienkrieges berichtet. Zwei Albaner aus Skopje warnten uns gar davor, uns mit Serben anzufreunden. Man könne ihnen nicht trauen.
Eine serbische Perspektive
Umso interessanter und meiner Meinung nach auch wichtig war es, jetzt auch eine serbische Perspektive zu hören.
„Und dann ausgerechnet Kosovo!“, begann Tamara zu erklären. „Im Mittelalter war dieses Gebiet die Kornkammer und das wirtschaftliche Zentrum des serbischen Königreiches. Der Patriarch der serbisch-orthodoxen Kirche, also einem der Symbole unserer nationalen Identität schlechthin, hatte sogar seinen Amtssitz in der kosovarischen Stadt Peć eingerichtet. Im Kosovo liegt also zumindest zum Teil die Wiege unserer serbischen Kultur.“
„Ihr müsst euch das vorstellen“, führte Tamara eindringlich aus. „Für uns fühlte es sich so an, als ob unser Staat immer kleiner und kleiner wird. Jugoslawien war ja bereits um die Gebiete Slowenien, Kroatien, Mazedonien und Bosnien zusammengeschrumpft. Nun wollte sich das nächste Gebiet abspalten, und dann ausgerechnet Kosovo!“
Der Kosovokrieg und das Eingreifen der NATO
Ab dem Jahr 1997 eskalierte dort der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt um Autonomierechte oder gar die Unabhängigkeit der Region. In einer nicht zu enden scheinenden Spirale aus Gewalt griffen sich kosovarische Albaner und serbische Polizeikräfte gegenseitig an, beschossen sich mit Granatwerfern und lynchten in den Dörfern des jeweiligen Gegners.
Um einen Abzug der serbischen Polizisten aus dem Gebiet des Kosovo durchzusetzen, bombardierten Kampfjets der NATO ab dem 24. März 1999 Ziele in Jugoslawien. 78 Tage lang fielen so Bomben auf serbische Städte, insbesondere die Hauptstadt Belgrad litt in dieser Zeit unter den Luftattacken.
Immer wieder mussten wir in den Schutzbunker fliehen. Wir hatten wahnsinnige Angst dort zugeschüttet zu werden, lebendig begraben, und nicht mehr wieder hinauszukommen.
- Tamara
„11 Jahre war ich alt, als die Bomben über uns herabfielen“, erzählte Tamara, als wir vor einem weiß verputzten Gebäude standen, das offensichtlich damals von einer Bombe getroffen worden war. „Immer wieder mussten wir in den Schutzbunker fliehen. Wir hatten wahnsinnige Angst dort zugeschüttet zu werden, lebendig begraben, und nicht mehr wieder hinauszukommen. Mein Vater war damals beim Militär. Jeden Tag habe ich mir Sorgen gemacht, habe mir vorgestellt, dass er nicht mehr wieder nach Hause kommt.“
Ein bewegendes Plädoyer für die Zukunft
Nach diesen emotionalen Ausführungen gab sich Tamara sehr gefasst und reflektiert: „Seit längerem schon wohnen im Gebiet des Kosovos viel mehr Albaner als Serben; um die 90% sind es momentan. Deshalb kann ich die Bestrebungen nach Unabhängigkeit verstehen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns nicht mehr so sehr an den vergangenen Ereignissen reiben, sondern dass wir vielmehr in die Zukunft schauen und diese friedlich gestalten!“
Ich würde mir wünschen, dass wir uns nicht mehr so sehr an den vergangenen Ereignissen reiben, sondern dass wir vielmehr in die Zukunft schauen und diese friedlich gestalten!
- Tamara
Mit diesem Plädoyer steht Tamara bestimmt nicht alleine da. Ob sich dafür allerdings eine stabile Mehrheit finden lässt, bleibt sehr fraglich. An vielen Stellen in Serbien sahen wir Graffitis mit dem Schlachtruf „Kosovo gehört zu Serbien!“. Riesige Plakate in der Nähe des serbischen Parlaments verweisen auf die Kriegsverbrechen aus den 1990er Jahren, die von Kroaten, Bosniaken und Kosovo-Albanern verübt wurden. Die Wunden sind hier immer noch sehr frisch – und zwar auf allen Seiten.